Der Winter ist ein rechter Mann,
Kernfest und auf die Dauer;
Sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an,
Und scheut nicht Süss noch Sauer.

War je ein Mann gesund, ist er’s;
Er krankt und kränkelt nimmer,
Weiss nichts von Nachtschweiss noch Vapeurs,
Und schläft im kalten Zimmer.

Er zieht sein Hemd im Freien an,
Und lässt’s vorher nicht wärmen;
Und spottet über Fluss im Zahn
Und Kolik in Gedärmen.

Aus Blumen und aus Vogelsang
Weiss er sich nichts zu machen,
Hasst warmen Drang und warmen Klang
Und alle warme Sachen.

Doch wenn die Füchse bellen sehr,
Wenn’s Holz im Ofen knittert,
Und um den Ofen Knecht und Herr
Die Hände reibt und zittert;

Wenn Stein und Bein vor Frost zerbricht
Und Teich‘ und Seen krachen;
Das klingt ihm gut, das hasst er nicht,
Denn will er sich totlachen. –

Sein Schloss von Eis liegt ganz hinaus
Beim Nordpol an dem Strande;
Doch hat er auch ein Sommerhaus
Im lieben Schweizerlande.

Da ist er denn bald dort bald hier,
Gut Regiment zu führen.
Und wenn er durchzieht, stehen wir
Und sehn ihn an und frieren.

(Matthias Claudius,  1782)

Claudius ist vielen bekannt als Dichter eines der bekanntesten deutschen Volkslieder, das seine Schlichtheit hohem Kunstverstand und genialer Verwendung mancher Elemente von Paul Gerhardts „Nun ruhen alle Wälder“ verdankt, als Verfasser des Liedes: „Der Mond ist aufgegangen„.

Das Winterlied, dass mir vorzeitig einfiel, weil der energische Herbsteinbruch mich frieren ließ, wie es in der letzten Zeile des Gedichts beschrieben wird, ist von ganz anderer Art. Mit seiner  Personalisierung des Winters hat es den Charakter eines Kinderliedes und doch spricht es von Krankheiten, mit denen Kinder wenig vertraut sind, von Darmkoliken und Vapeurs (Frauenleiden, deren Ursache im 18. und 19. Jahrhundert in Blähungen gesehen wurden). Folgerichtig gehen Interpretationen für Kinder nicht darauf ein. Und ich selbst stelle fest, dass ich mir das Gedicht aus meiner Kindheit gemerkt habe, nur nicht die beiden Strophen, die von Krankheiten handeln. Da ist der kernfeste Mann, der sich über klirrende Kälte totlachen kann, doch eine sehr viel eindrucksvollere Gestalt, die Kindern richtig imponieren kann.

Weshalb schreibt Claudius, der doch so genau auf alle Valeurs achten konnte, so ein disparates Gedicht?

Ich glaube, weil es schnell gehen sollte. Da steht das Bild für Kinder; doch seine eigenen Assoziationen beim Winter unterdrückt der Verfasser nicht. Mir scheint auch das „hinterm Ofen“ ein wenig selbstironisch: Wenn man gut verbarrikadiert hinter dem Ofen sitzt, kann man die Stärken des Winters loben. Aber wehe, wenn einer einen hinter dem Ofen hervorlocken wollte.

Wer sieht’s anders?